Maturitätsarbeit Stuhlbank (reich bebildert)

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Urs
Beiträge: 493
Registriert: Mi 10. Dez 2014, 10:45

Maturitätsarbeit Stuhlbank (reich bebildert)

Beitrag von Urs »


Hallo miteinander

Kürzlich wurden am Liceo Artistico in Zürich die Maturitätsarbeiten vorgestellt. Mein Vaterherz fieberte selbstverständlich beim Vortrag meiner Tochter mit, mein Schreinerherz schaltete aber beim Projekt einer Klassenkameradin einen Gang höher: Sie hatte mit Hilfe und Unterstützung des Schreinermeisters Theo Knecht eine Bank entworfen und in umwerfend schönem einheimischem Nussbaum realisiert.

Der Entwurf war das Resultat einer Reihe von Ideen und Skizzen, in einer Phase auch inspiriert von der „Stuhlhockerbank“ der deutschen Designerinnen Yvonne Fehling & Jenny Peiz.

Hier wurde es schliesslich eine Vervielfachung einer Stabelle, wobei die Idee von Zeit, bzw. Beschleunigung die Form mitgeprägt hat (die Skizze mit Massangaben stammt vom Schreinermeister).



Nun wird jeder von Euch sofort feststellen, dass dies nicht trivial ist und das Umsetzen der Idee in Holz etliche knifflige Herausforderungen mit sich bringt.

Anders als bei der klassischen Stabelle wurden nur die aufrechten Friese mit Zapfen durch die Sitzfläche geführt und nicht die Rücklehne (hier lediglich Nut/Feder).







Lehne und Sitzflächen sind gemäss Entwurf geteilt und in unterschiedlicher Stärke ausgeführt (um den Eindruck der Beschleunigung optisch zu unterstützen).









Die gedrechselten Beine stecken verkeilt in Leisten, welche dann an die Sitzfläche geschraubt werden.





Eindrucksvolle Kontraste ergeben sich durch den Miteinbezug des Splintholzes. Zudem wurden für Sitz und Lehne benachbarte Bohlen verwendet, so dass sich ein gespiegeltes Bild (bookmatched) zeigt.



Nicht nur wenn man bedenkt, dass es Ihre erste Schreinerarbeit war, ist dieses Werk sehr beeindruckend. Die praktische Umsetzung dauerte gut vier Monate (jeweils zwei Halbtage pro Woche). Das Projekt findet sich dokumentiert in einer 44-seitigen Broschüre, die den ironisch-aktuellen Titel „Bankgeheimnisse“ trägt. Darin wurde nicht nur der Arbeitsablauf beschrieben. Sie enthält auch einen theoretischen Teil, allgemeine Gedanken über den Beruf des Möbelschreiners und die Ideologie des democratic design (IKEA).



Als Ausblick noch einige Zitate aus der Arbeit: „Liebend gerne würde ich wieder etwas schreinern. Es gibt schon weitere Pläne ... netter Küchentisch ... Eine Ausbildung als Schreinerin wäre eine gute Alternative .... Da ich jedoch meine Zukunftspläne nach dem Studium ausrichte, werde ich in Zukunft nur in meiner Freizeit handwerklich aktiv sein können.“

Neben dem Projekt der Maturandin (von ihr stammen übrigens auch alle Fotos) hat mich auch das Engagement des Schreinermeisters beeindruckt. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich Berufsleute die Zeit nehmen, junge Interessierte derart intensiv mit ihrem Fachwissen und ihrer Erfahrung zu unterstützen.

Ich hoffe, Ihr hattet ähnlichen Spass wie ich beim Betrachten dieses Projektes.

Gruss

Urs



Rafael
Beiträge: 847
Registriert: Do 6. Jul 2017, 18:43

Re: Maturitätsarbeit Stuhlbank (reich bebildert)

Beitrag von Rafael »


Handwerklich schöne Arbeit, auch interessant die Details der Ausführung zu sehen, aber "Eindruck der Beschleunigung"? Tut mir leid, bei solchen Begriffen kräuseln sich mir immer die Nackenhaare.

Noch eine Frage am Rande: warum denn jetzt schon wieder ein englischer Ausdruck wie "(bookmatched)"?

Gruß,
Rafael


Andreas Lev
Beiträge: 154
Registriert: Mo 3. Dez 2018, 17:48

Re: Maturitätsarbeit Stuhlbank (reich bebildert)

Beitrag von Andreas Lev »


Hallo Urs,

geniale Idee,
geniale Umsetzung!

Vielen Dank für den Beitrag.

Beste Grüße

Andreas


Pedder
Beiträge: 5797
Registriert: So 8. Dez 2019, 14:41
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Re: Maturitätsarbeit Stuhlbank (reich bebildert)

Beitrag von Pedder »

[In Antwort auf #56426]
Hallo Urs,

vielen Dank für Diesen Beitrag! Maturitätsarbeit sagt mir nichts, aber es kliongt nach einer spannenden Sache. Sowas hätte ich auch gern gemacht.

Liebe Grüße
Pedder


Heid K.G.

Re: Maturitätsarbeit Stuhlbank (reich bebildert)

Beitrag von Heid K.G. »

[In Antwort auf #56426]
Hallo
Das ist wohl ein Projekt aus "Austria" deshalb Matura, Reifeprüfung.
Sehr schön geworden mit dieser Astholzvariante. Hut ab!!!
Gruß Kurt


justus

Re: Maturitätsarbeit Stuhlbank (reich bebildert)

Beitrag von justus »

[In Antwort auf #56426]
guude,

im prinzip recht witzig, aber:

rückenlehnen: längsholz an querholz?
beine: geschraubte "gratleisten" auf querholz?
"gratleisten": von vorne unterschiedlich gut sichtbar?
unbedingt stützhölzer seitlich an den beinen, offen geschraubt, um statische probs in den griff zu bekommen? (Bild 3)
holzeinsparung: unbedingt noch einen fehler von 5mm unten in der rückenlehne einbauen?
missachtung der grundliegensten holzverarbeitungserfahrungen bei einem sooo stark arbeitendem holz wie NB?
schade um das holz und den ganzen aufwand.
ich denke, dass die fachkundige beratung sich nicht gegen jugentlichen eifer durchstzen konnte.

weiterhin: gut holz! justus.


alexb
Beiträge: 88
Registriert: So 20. Mär 2016, 11:41

Re: Maturitätsarbeit Stuhlbank (reich bebildert)

Beitrag von alexb »


Hallo,

Matura ist auch in der Schwiz die Bezeichnung für das (deutsche) Abitur (da die Arbeit in Zürich vorgestellt wurde). Ich denke, die Maturitätsarbeit ist gleichbedeutend mit der deutschen Facharbeit, also einer eigentlich selbständig abgefassten Arbeit in den letzten Klassen (bei uns Kollegstufe).
Auch mir gefällt die Arbeit übrigens sehr gut. Meine Facharbeit hatte ich damals in Mathe gemacht - das war eindeutig ein etwas "trockeneres" Thema.

Gruß,
Alex



Urs
Beiträge: 493
Registriert: Mi 10. Dez 2014, 10:45

Re: Maturitätsarbeit Stuhlbank

Beitrag von Urs »

[In Antwort auf #56434]
Danke an alle für Eure Kommentare!

An Justus:
-Die beiden Problemzonen Langholz/Querholz sind mir auch gleich aufgefallen. Aber bei den Friesen/Lehnen wurde diesem Aspekt Rechnung getragen und nur oben verleimt. Dies steht auch ausdrücklich in der Dokumentation. Die Lehne kann sich also bewegen in der seitlichen Nut (in Richtiung Nut in der Sitzfläche). Ich habe diesen Punkt einfach nicht erwähnt. Bei den Leisten mit den Beinen hätte ich eigentlich Langlöcher erwartet. Aber ich gehe davon aus, dass Dein Berufskollege mit seiner Erfahrung abgeschätzt hat, dass dies hier ausnahmsweise nicht nötig ist.
- Dass die Leisten ungleichmässig sichtbar seien, kann ich nicht bestätigen. Photo Nr. 10 täuscht, da die Beine dort nur hingestellt und noch nicht angeschraubt sind.
- Dass die überstehenden Zapfen an die Beine angeschraubt sind, dürfte kaum gemacht worden sein, um die Beine zu stützen. Die ganze Bank und die Lehne machen auch beim Probesitzen (84 kg) einen hinreichend stabilen Eindruck.
- Der von Dir scharf beobachtete Umstand, dass eine falsche Feder an die Rücklehne angebracht werden musste, war ein Überlegungsfehler und wird in der Dokumentation auch so deklariert. Ich wollte nur nicht darauf herumreiten. Wer keine Fehler macht, darf die Hand heben!

An Rafael:
Deine Nackenhaare dürfen sich natürlich kräuseln, wann immer sie wollen, aber mit dem Problem, wie man einen dynamischen Aspekt in einer statischen Darstellung ausdrückt, haben sich schon viele grosse Künstler schwer getan. Die Schülerin wollte diese Idee mit hinein bringen (aus Überlegungen, die sie im theoretischen Teil dargelegt hat) und ich denke, dass ihr dies nicht schlecht gelungen ist. Sie ist mit der künstlerischen Freiheit (ist ja auch ein Kunstgymnasium!) an die Sache herangegangen, die ersten Entwürfe wären wahrscheinlich nur als Schnitzerei ausführbar gewesen und fand dann mit dem Fachmann einen realisierbaren Kompromiss.

An Pedder:
Die sprachlichen Schwierigkeiten zwischen der Schweiz und Deutschland sind ja schon von anderen ausgeräumt worden, ich habe aber genau so reagiert wie Du: Ich hätte mich in der Schulzeit sehr gern an einer solchen Aufgabe versucht. Man ist nämlich sehr frei in der Themenwahl. Eine andere Maturandin hat (ebenfalls mit Hilfe eines Profis) aus ihren eigenen Haaren eine Perücke geknüpft.

Gruss

Urs



Pedder
Beiträge: 5797
Registriert: So 8. Dez 2019, 14:41
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Re: Maturitätsarbeit

Beitrag von Pedder »


Hallo Urs,

es waren weniger sprachliche (Matura sagt mir schon was) als kulturelle Unterschiede. Die Idee, sich ohne konkreten wissenschaftlichen Bezug ein halbes Jahr mit einem Thema zu befassen ist deutschen Lehrplänen, (nach meiner evtl. veralteten kenntnis), fremd. Aber das ist Klasse. Und wenn es Kunst ist, können die Techniker es sowieso nicht befgreifen. :o)

Wenn ich allerdings eine Perücke aus meinen Haaaren hätte küpfen müssen (was möglich gewesen wäre im Hinblick auf die Haarlänge), hätte ich den Staat gewechselt.

Liebe Grüße
Pedder


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